"Werte / Werke / wichtig / Reputation"
Vortrag HfMT Hannover am 24.6.2010
Folkmar Hein, ehemals TU Berlin

1. Wert & Reputation

In der Vorbereitungsphase einer EMhörenveranstaltung fragte ich einst nach der Zeitabhängigkeit all unserer Wahrnehmungen, was mich auf die Idee des "Wichtig-Disputes" brachte; ich schrieb damals:

Eine häufig gestellte Frage ist, welche EM-Werke sind "wichtig"?
Was wichtig ist, das hängt individuell von dem Fragesteller selbst ab und von seinen eigenen aktuellen Wichtigkeitskriterien - etwa geschichtlichen Kriterien, dem Bekanntheitsgrad als Spiegel der Publikationsdichte, dem Kontext zur momentanen Konzertsituation oder zu einschlägigen Lehrveranstaltungen, Kriterien aus technischer und/oder ästhetischer Sicht, vom Materialgedanken her etc.
Die Idee des IDEAMA / ZKM Karlsruhe (
Internationales Digitales Elektroakustisches Musik-Archiv) ist die, der Welt zu signalisieren, welche ca. 700 EM-Werke die "wichtigsten" sind!
Nun, wo wir so etwas hören wie "die besten Klavierkonzerte der Klassik" oder "der beste Film aller Zeiten" (und ein bisschen ist das IDEAMA ja das beste Archiv aller Zeiten, nicht wahr?), gehört eine Diskussion auf den Tisch, was es denn ist, was man "wichtig" oder "das Beste" nennt.
Die "Wichtigkeits-Behauptung" resultiert in eine Trennung in "wichtig / unwichtig" (denn das Wort "wichtig" hat ja keinen Sinn ohne sein Pendant "unwichtig!), also auch ein bisschen eine Einteilung in Gut und Böse; diese Wichtig-Behauptung will offenbar den Dualismus von Erhalten / Wegwerfen, --- sozusagen eine 1-Bit-Fassung im digitalisierten Werte-Archiv.

Genau hier, beim "Wegwerfen", fangen meine Bedenken an, auch im Hinblick auf die Einschätzung der EM-Geschichte in Deutschland!

Welchen Sinn hat es, etwas für "das Beste" und "für wichtig" zu halten, und dies auch noch für "alle Zeiten"? Wissen wir bereits jetzt und eindeutig, wie es in der Zukunft weitergeht und zukünftige Generationen urteilen? Lehrt uns nicht die Erfahrung, dass etwas, was einst nicht gemocht wurde, heute geliebt werden kann? und auch umgekehrt? Ist nicht dieser unbestimmte, unkalkulierbare Schwebezustand der Musikkultur überhaupt Grundlage für unseren europäischen Werdegang? Und wie gehen wir damit um?

Wir glauben manchmal, dass sich mit der technischen Revolution in der Studiotechnik alles "verbessert" hat - wobei das Wort "besser" sagt: als Verbesserung könnte man eine Wandlung von einem bestehenden in einen neuen "verbesserten" Zustand verstehen. Aber: der neue Zustand ist dann bald selbst wieder "alt", usw. .
Beispiel: einst war die Monoschallplatte die große Sensation; dann kam die Stereoschallplatte; es folgte die CD, dann die DVD; ja, und wie bei einem Wunder wandelte sich das einst gelobte Neue in etwas Altes und "Schlechteres", das man ohne Bedenken wegwirft.
In Bezug auf die Technik kann man "alt" und "neu" gegen "schlechter" und "besser" austauschen. Dies deswegen, weil wir einen tiefen Glauben in den Technikfortschritt haben! Angeblich wird alles Technische immer besser, schöner, schneller in Bezug zu etwas nicht ganz so schnellem-schönen... aber was mag das sein?? Und hat das etwas mit der Musik zu tun? wird die mit "besserer" Technik auch die Musik besser?? –
In unserer Sendung über die EM in der DDR (Mai 2010, HR2) ist diese Frage stets präsent gewesen! Darüber berichtet Georg Katzer selbst:


In Musik und Gesellschaft, Heft 4 {April} / 1989 "Musik und Computer" lesen wir dazu in einem Interview zwischen Katzer und Machlitt (betitelt "Technik kontra Geige"):

Machlitt: .... Haben wir, was die Studiogründungen an der Akademie und der Dresdner Hochschule für Musik anbetrifft, einen großen Rückstand gegenüber den ausländischen Erfahrungen zu verzeichnen?

Katzer: Einen Rückstand unseres Studios zu den entwickeltsten in der Welt gibt es natürlich - einen zeitlichen Rückstand, und der bedeutet eben Rückstand an Arbeitserfahrung, an Know-how, an Ausbildung junger Komponisten und anderem. Auch sind wir gerätetechnisch noch nicht so üppig ausgerüstet wie die modernsten Einrichtungen in der Welt. Diese Lücke wäre nicht so groß, hätte das während der 60er Jahre von Gerhard Steinke gegründete Versuchsstudio der Deutschen Post im Rundfunk und Fernsehtechnischen Zentral amt Adlershof weiterarbeiten können. Es besaß damals durchaus einen international vergleichbaren technischen Standard. Als wir in den 80er Jahren in Dresden und Berlin erneut anfingen, begannen wir technologisch aber nicht dort, wo man in Adlershof Ende der 60er Jahre aufgeben mußte, sondern auf einem entwickelteren Niveau. Freilich haben wir, zumindest an der Akademie, noch keinen Zugang zu Großrechnern wie die namhaften ausländischen Studios.
Eine interessante Frage ist, wie umfangreich denn überhaupt die Ausstattung sein muß, damit künstlerisch akzeptable Kompositionen entstehen. Ich glaube, man kann auch mit relativ bescheidenen Mitteln - eine gewisse Grundausstattung vorausgesetzt - durchaus zu künstlerisch überzeugenden Ergebnissen gelangen. Wenn zum Beispiel Studios wie GRM und IRCAM in Paris, EMS Stockholm, andere in Mailand oder in den USA und Japan mit enormem technischem und finanziellem Aufwand für Forschung und Komposition arbeiten, unter Benutzung von Großcomputern, so ist damit nicht automatisch ein hohes ästhetisches Niveau aller dort realisierten Stücke garantiert. Natürlich stammen aus all diesen Einrichtungen hervorragende Kompositionen, aber eben auch weniger Gelungenes. Und es zeigt sich, daß bei all der wunderbaren Technik die Phantasie des Komponisten das Entscheidende bleibt. Freilich würde ich mir wünschen, daß auch unsere Komponisten Zugang zu Großrechnern hätten. ….


Ja, dies ist ein sehr spezielles Thema mit tiefen Gefühlen und Emotionen, was sich in jedem Fall günstig für den Handel auswirkt; da kann das Alte schon mal einen Sammlerbonus bekommen und das Neue einen Fortschrittbonus: die Händler freuen sich alleweil. Wahr ist, dass die Zeit weiterschreitet und kommende Generationen nicht mehr nachvollziehen können, was die alten an dem "Alten" einst so toll fanden. – Dafür ein historisches Beispiel:


Tonbeispiele von der Funkausstellung 1932 in Berlin / elektrische Instrumente: Ton1; Ton2; Ton3

Text Ton1 (begeistert gesprochen von Prof. Gustav Leithäuser {Heinrich-Hertz-Institut TH Berlin}):
Der Resonanzboden ist ein sehr schwieriges Gebilde, bei dem man sehr viel Schwierigkeiten mit der Holzverarbeitung und ähnlichen Dingen zu überwinden hat. Dagegen beherrschen wir die elektrische Verstärkertechnik viel besser, und es ist deswegen viel einfacher, schöne Klänge und sehr laute Klänge, beliebig laute Klänge, mit elektrischen Verstärkern zu erzielen. Ich möchte nun, bevor ich ihnen weitere Einzelheiten erzähle, und bevor ich noch auf die zweite Gruppe der rein elektrischen Instrumente eingehe, ihnen zunächst ein Instrument vorführen, den elektrischen Neo-Bechsteinflügel, der von Bechstein, Siemens und Nernst in gemeinschaftlicher Arbeit entwickelt worden ist. Herr Narand wird so freundlich sein, und ihnen ein Stück auf dem Bechsteinflügel, der dort in der Ecke steht, vorspielen. ....

Text Ton2 (gleiche Veranstaltung):
Nun, damit können wir jetzt diese Art der Musik verlassen, und können zurückkehren zu den Instrumenten, von denen wir ausgegangen sind, nämlich Flügel, Geige und Cello. Wir werden uns hier mit diesen drei Instrumenten ein sehr gutes Trio anhören können. Das Cello, was sie da sehen, hat keinen Resonanzboden. Wenn man es umdreht, so sehen sie: es ist ein einfaches Brett, auf dem die Saiten aufgespannt sind. Frau ? Wolski spielt jetzt die Geige, Fräulein ? das Klavier und Herr Dr. Reinhold wird das Cello bedienen. Ehe sie aber anfangen, wollen wir ihnen noch zeigen, dass wir tatsächlich hier mit der elektrischen Abnahme allerhand erreichen können. Wenn wir einen magnetischen Gegenstand, also ein bisschen Eisen, zwischen die Saite und den Magnet bringen - jetzt tun wir das, so hören sie das außerordentlich ? Krachen in den Lautsprechern durch die Änderung des magnetischen Flusses. Streichen wir das Cello an, während der Verstärker eingeschaltet ist, so werden sie den Klang gut vernehmen können. Bitte mal machen! --- Jetzt schalten wir den Verstärker ab, {Knack}, und sie sehen, dass sofort der Klang dünn wirkt und unscheinbar ist. -....

Text Ton3 (dito):
Nach dieser sehr schönen Darbietung wollen wir noch einen weiteren Versuch machen. Wir wollen jetzt mit der Geige und dem Klavier, was wir auf Klavierton umschalten, ihnen zeigen, wie das Zusammenklingen arbeitet, und wollen dann einmal das Klavier, dann die Geige, dann mal beide, elektrisch abschalten, sodass der Verstärker keinen Ton mehr bekommt. Dann werden sie tatsächlich feststellen können, wie außerordentlich wechselnd diese Klänge sind, das heißt, wie viel der Verstärker tatsächlich zulässt. Bitte mal anzufangen: {Duo spielt}; Klavier aus ; zuschalten; Geige aus; bitte wieder einschalten; beide aus; wieder einschalten ...


Was war denn die Sensation damals?? War es das Wunder der Verstärkung, war es ein neuer Verstärker? War es der fehlende Resonanzboden? War es die Musik? - Nein: die Sensation entstand schlicht durch eine medienwirksame Darstellung, über die wir uns heute nur noch amüsieren! - Aber Hand aus Herz: die euphorische Ankündigung eines iPad wird in 40 Jahren auch nur noch ein Lächeln hervorbringen!!

Ich möchte mit diesem Beispiel klarlegen, dass alle Wert- und Wichtig-Aspekte zeitbezogen bzw. zeitabhängig sind, sich also zeitlich wandeln (im Laufe von Jahrzehnten, Jahren, Monaten, Tag für Tag und womöglich von einem Augenblick zum anderen) und eben nicht eindeutig sind; wir denken heute ganz anders über die damalige "Wundertechnik" von Verstärkern und der lächerlichen Erwartung in sie - unter anderem an die Anmaßung des Wortes "schön", das interessanter Weise direkt neben "laut" auftaucht!!
Und mit der Zeitabhängigkeit sind diese Werte-Aspekte auch ortsabhängig!


Kommen wir zurück auf das IDEAMA;
es geht in der Wertediskussion auch um die Bewertung von Werten, also um Ranking / Evaluierung, auch Wertschätzung. Die Werkauslese (die sog. Titelliste) der IDEAMA-Basissammlung ist ein Produkt der Evaluierung durch eine Jury! Allerdings steht fest, dass bei dieser Evaluierung kein Kriterienkatalog formuliert ward, obwohl dieser bis auf den heutigen Tag angekündigt ist. Wie war denn nun die Benotung für tausende von EM-Werken, die damals, 1992 existierten (es waren übrigens laut meiner Datenbank deutlich über 18000!!)? Und spannend wär es schon zu erfahren, wie denn wohl der Notendurchschnitt ausfiel, welche Note für "Gesang der Jünglinge", welche Note für Kriwets Textkompositionen!!

Nun, es sind weder Kriterienkatalog noch Noten bekannt; auf den Kriterienkatalog verzichtete man vermutlich deswegen, weil man darauf vertraute, dass (so sagt das Protokoll):
die "Reputation und das Vertrauen in die Sachkompetenz der Experten des europäischen Auswahlgremiums" ausreiche!!
(Wir beachten bitte das Wort "Sachkompetenz" im Zusammenhang mit Kunst)!
Wer waren die, denen man 1992 eine solche Reputation zusprach?? (Sie finden die Namen auf deer IDEAMA-Homepage ganz unten).


An dieser Stelle führe ich die html-Tabelle der Titelliste vor, und dann eine nach Filemaker exportierte Fassung:


Kommen wir zu Details des IDEAMA:

Man kann nachweisen, wie selbstbewusst sich die Jury eingesetzt hat!!! Allein die Anzahl unter den insgesamt 708 Werken in der Basissammlung, die von den Jurymitgliedern selbst stammen, macht 143 aus!!! das sind zwischen 20% und 25%
(je nachdem, wie man rechnet: unter den insgesamt 708 Werken werden 7 doppelt genannt - das sind verschiedene Versionen eines Werkes - siehe oben!!! Wir wissen jetzt auch (siehe oben), dass von den 708 Werken 138 unauffindbar sind,
verbleiben 563 Werke - dann machen 143/563 etwa 1/4 aus)!!
Kaum zu glauben: manche Jurymitglieder haben sogar eigene Werke für das IDEAMA vorgeschlagen, die nicht mehr auffindbar sind (etwa Bayle: 5 von 13!); und es gibt Jurymitglieder, die fast ihr ganzes Werk bis 1970 verewigen wollten / bzw. konnten (Boulez, Risset und Ligeti allesamt; Pierce: 8 von 10; Max Matthew ist mit 10 von 18 Werken vertreten!). Was kann man daraus schließen?

Von den 20 internationalen Jurymitgliedern
(Francois Bayle {13 / 26}, Luciano Berio {12 / 16}, Lars Gunnar Bodin {4 / 15}, Pierre Boulez {3 / 3}, John Cage {8 / 38}, John Chowning {0 / 1}, Hugh Davies {2 / 15}, Julio Estrada {0/0}, Hiroshi Inose {0/0}, Mauricio Kagel {2 / 17}, Francisco Kroepfl {4 / 10}, György Ligeti {2 / 3}, Max V. Mathews {10 / 18}, John Pierce {8 / 10}, Steve Reich {2 / 10}, Jean-Claude Risset {2 / 2}, Pierre Schaeffer {19 / 29}, Toru Takemitsu {5 / 17}, James Tenney {3 / 16} und Iannis Xenakis {6 / 9})
haben nur 3 keine Werke zu verzeichnen (Chowning, Estrada, Inose - wer ist überhaupt Inose?).

Die 12 europäischen Jurymitglieder waren:
Francois Bayle (Frankreich) {s.o.}, Nicola Bernardini (Italien), Lars Gunnar Bodin (Schweden){s.o.}, Christian Clozier (Frankreich){3 / 5}, Hugh Davies (England) {s.o.}, Rudolf Frisius (Deutschland), Johannes Fritsch (Deutschland){5 / 10}, Gottfried Michael Koenig (Niederlande) {15 / 16 !}, Josef Patkowski (Polen), Josef Anton Riedl (Deutschland) {8 / 69}, Herman Sabbe (Belgien) und Jürg Stenzl (Schweiz).
Darunter ist eine stattliche Zahl von 5 Musikwissenschaftlern (Bernardini, Frisius, Patkowski, Sabbe, Stenzl). Am ehesten haben sich Clozier und Koenig mit eigenen Werken durchgesetzt - hier kann man schön erkennen, dass Maßstäbe nicht wirklich vorlagen:
Beispiel Clozier und Koenig: beide waren Studioleiter {Bourges und Sonology} und natürlich an der Durchsetzung ihrer Studioproduktionen interessiert; beide auch Komponisten, die sehr unterschiedlich in die Geschichte der EM eingehen / bzw. bereits eingegangen sind (zu Clozier kommen wir noch).

(weil jetzt Fußballweltmeisterschaften ausgetragen werden, verzeihen sie mir den Jargon:):
In der Liga ganz oben stehen die Franzosen (176 Werke, davon allerdings 25 verschollen), dann die Amerikaner (145 Werke, 5 verschollen) und die Deutschen auf Platz drei (89 Werke, davon 12 verschollen! Kuriosum: O. Salas "Vögel" {Hitchcock} wird als verschollen angegeben und hat eine Dauer von 1 Minute!); Patkowski und Sabbe haben erfolgreich ihr Land verteidigt (PL mit 45 Werken, alle aus dem Warschauer Exp. Studio; allerdings 30 - das sind 63% - werden als verschollen angegeben!); (B mit 40 Werken {5 verschollen} - fast alle aus dem IPEM Gent). Warum Bodin nur 17 Werke für Schweden durchdribbelte (davon 7 von ihm selbst und von Hanson), wirkt überraschend! Die Japaner (vertreten durch 2 Herren) kommen auf stolze 35 {minus 7 verschollene} Tore (fast allle, nämlich 20, vom Dreiergespann Mayuzumi - Moroi - Takemitsu) – merkwürdig: es existierten in Japan vor 1971 bereits mehr als 154 EM-Werke, die vorwiegend im NHK Tokio entstanden waren. Wie ist das zu verstehen?

Und: wie kommt es, dass in der IDEAMA-Liste keine Studios angegeben werden? Und damit entsteht auch die Frage, was überhaupt an Informationen in eine Datenbank gehört!!

Aber schauen wir kurz auf die deutsche Auslese:

Die deutschen Beiträge (es verbleiben nur 84 Werke, von denen 13 "verschollen" sind, also eigentlich nur 71 Werke):
sie kommen zu etwa
12,7% aus dem Siemens-Studio München und zu 81,7% aus dem Wirkungskreis des WDR; Siemens und WDR machen zusammen 94% der deutschen Mannschaft aus, der Rest (Sala, Riedl-PS, HfM Köln und TU Berlin) kommt zu satten 4 Werken!!!
Und erstaunlich ist zudem, dass das jüngste Werk eines deutschen Komponisten aus dem Jahre 1968 ist (Stockhausen's Kurzwellen!), danach kommt nichts mehr aus Deutschland!

apropos WDR-Geschichte: Schauen wir auf den Boden des Alltags zurück!!
Die Geschichte hat im Fall des WDR-Studios hart entschieden (genauer gesagt: es müssen wohl Menschen entschieden haben):
das berühmte WDR-Studio wurde vor einigen Jahren abgewickelt!
Es war für Jahrzehnte ein nationales und internationales Vorbild und ich will auf kein einziges WDR-Werk verzichten, gerade umgekehrt (siehe Sendungsarchiv des WDR für beide Studios). Ich hoffe nur, dass die klugen MuWis sich ausreichend dafür eingesetzt haben, dass ALLES vom abgwickelten el. Studio des WDR archiviert wird (darüber bin ich beunruhigt! wie sieht es aus mit der Frage der Stockhausenwerke bzw. den Fragen zwischen WDR und dem Stockhausenverlag?).

In Deutschland gab es laut der in der IDEAMA-Liste berücksichtigten Werke vor 1971 neben dem WDR-Studio und dem Siemensstudio in München noch das RFZ-Studio in Ost-Berlin (zwei Werke: eins von Matthus, eins von Rzewski) und unter den Privatstudios die von Heiß, Sala, Riedl sowie minimal die TU-Berlin und HfM-Köln. Allerdings wird nicht erkennbar, dass auch in anderen ARD-Anstalten und anderen Musikhochschulstudios produziert wurde; erste Werke des ICEM Essen müssten 1970 entstanden sein und ein Werk wie "Mantra" von Stockhausen wurde doch 1970 in der Strobelstiftung Freiburg realisiert!
Schaut man in meine internationale Datenbank der EM (die sogenannte EMDoku), so findet man mindestens 718 Werke aus Deutschland, die
vor 1971 entstanden sind (allerdings sind 100 Werke keinem Studio zuzuordnen!)!!! Warum nur 71 Werke in das IDEAMA berufen sind, kann ich nicht nachvollziehen!!

Wo bleiben die vielen Werke aus den anderen ARD-Anstalten, aus dem Exp.-Studio Freiburg, HfM Düsseldorf, HfM Köln (allein 46 Werke), ICEM Essen, die sagenhaft zahlreichen Werke aus den Privatstudios von Sala und Heiß, die Werke des TU-Studios? Und wo bleibt das andere WDR-Studio, nämlich das Studio akustische Kunst (Schöning), das seit Ende der 60er Jahre EM produziert??

Was speziell unser TU-Studio genau zu diesem Thema anbelangt:
Das in IDEAMA berücksichtigte Blacherwerk "Impulsketten" in der bemerkenswerten Länge von knappen 3 Minuten war übrigens laut Aussage des Komponisten selbst eine "Studie"; zu dieser Zeit war es das einzige auf Schallplatte erschienene TU-Werk und fiel vermutlich nur deshalb der Jury auf; unser Studio hatte aber bereits 42 andere Werke vor 1971 produziert, darunter einige wirklich große Produktionen wie etwa die quadrofone Opernmusik von Blacher's "Zwischenfälle bei einer Notlandung" für die Hamburgische Staatsoper, darunter ein ganzer Akt, wo erstmalig in einem abendfüllenden Musiktheater ausschließlich Lautsprechermusik erklang (und ich muss noch hinzufügen: unter dem Gelächter des Publikums!). Und die Aktivitäten auf der Expo in Osaka hätten doch auch bekannt sein müssen!
Wo ich schon bei Anekdoten bin: ich will zeigen, dass es berechtigt ist, Misstrauen gegen potentielle Wegwerfer wie diese Experten zu haben:
bei der Vorbereitung der CD-Reihe des Musikrates
(Nr. 74321 73541 2 / Musik in Deutschland 1950-2000 "Zerbrochene Idyllen (1966-1973)", Musiktheater / Oper),
kam heraus, dass der NDR den originalen Tonbandmitschnitt der Oper "Zwischenfälle.." weggeschmissen hatte, sodass nur noch eine semiprofessionelle Kopie von diesem NDR-Band übriggeblieben ist, die ich noch im TU-Archiv fand!
Lustig ist übrigens, dass Shinohara's intermediäres Werk "Personnage" von 1968 in der IDEAMA-Liste unter "Deutschland" genannt ist; diese Fassung von 1968 war an der TU Berlin entstanden und wurde später vom Komponisten selbst zurückgezogen; erst 1973 hat Shinohara die endgültige Fassung in Sonology Utrecht hergestellt!!


Daraus folgend habe ich für mich entschieden:
den Recherchen für IDEAMA traue ich nicht und
ich zweifle erheblich an der "Sachkompetenz der Experten"!

Ich könnte in einem nächsten Schritt Kritik am Auswahlprozess dergestalt äußern, dass damals niemand von unserem TU-Studio in die IDEAMA-Jury eingeladen wurde.
Nun, ich bin mir sicher, dass mit einem solchen TU-Vertreter (der ich selbst dann wohl gewesen wäre) unter den bereits vertretenen Lobbyisten ein weiterer hinzugekommen wäre, der wahrscheinlich, wie die anderen auch, versucht hätte, vor allem für die TU zu punkten!

Ergo: so geht es einfach nicht!!! Das ganze Verfahren ist falsch! Die ganze Idee von Sachkompentenz verbunden mit Archivierung ist faul!

Ich postuliere im Zusammenhang zu unserem Hauptthema "Werte":

EM beginnt in der Gesellschaft erst dann zu existieren, wenn sie in den Medien in welcher Form auch immer erschienen ist;
im übetragenen Sinn: worüber man nicht spricht oder schreibt, das exisitiert nicht.

Ergebnis:
Schafft EM die Hürde in die Medienpräsenz & wissenschaftliche Publikation nicht, so wird sie nicht nur ignoriert und vergessen, sondern sie droht weggeworfen zu werden (was mit allen Mitteln verhindert werden muss).


Und darum legen wir Archive an!

Und wir lassen uns Zeit, den Archivbestand zu pflegen, wissenschaftlich zu betreuen, materiell zu erhalten (er soll natürlich nicht in eine Baugrube fallen! - sag ich deshalb, weil im Kölner Stadtarchiv auch der Nachlass von Ernest Berk mitsamt von Tondokumenten lagert{e?}, für den ich mich vor Jahren eingesetzt hatte; inzwischen wurde sogar vom Stadtarchiv eine kleine Veröffentlichung herausgegeben; was mit dem Nachlass wohl geschehen ist?).
Mit der Archiv-Literatur beschäftigen wir uns jetzt oder später und überlassen damit
der Zeit ihre Kunst!

Die
Auswahl für die Übernahme in das Archiv trifft keine Jury und schon gar nicht irgendwer, dem nur "Reputation" nachgesagt wird,
sondern ein professioneller Archivar! Der Archivar übernimmt zunächst alles! Er ist froh, wenn sein reichhaltiges Budget Ankäufe erlaubt.
Das Archiv gewährleistet, dass selbst verschwunden geglaubte Werke in ihre Existenz zurückkehren.

In der Juryeinsetzung zur Archivfindung liegt ja das generelle Missverständnis des IDEAMA (das letzte A meint Archiv!) und dies ist der Grund, warum ich mich so ausführlich damit beschäftige, denn so eine Verwechselung von Archivierung und Mediathek darf sich nicht wiederholen!

Ich bin sehr froh, dass zur Zeit ein weltweiter Trend zu beobachten ist, die alten Schätze der Studios sorgfältiger als bisher mitsamt ihrer Abspielmaschinen / computer zu archivieren und dafür auch das notwendige professionelle Personal einzustellen!! Man hat erkannt, dass die Bestände der EM zu verfallen drohen: chemisch, mechanisch, technisch, inhaltlich, künstlerisch, menschlich, ..... Der Archivierungsprozess ist gigantisch; er beginnt eher einfach mit einer Digitalisierung der analogen Tonbänder. Wenn nach Jahrzehnten die Grunddigitalisierung endlich geschafft ist, muss gleich eine aufwendige Kontrolle der neuen Träger erfolgen, die wahrscheinlich ständig und immer wieder auf neue Datenträger mit zeitgemäßen Protokollen und in lesbaren Formaten umkopiert werden.
Im TU-Studio werden nur noch ausnahmsweise CDR oder DVDR verwendet, sondern nur noch Festplatten.


Zwischenrede zur Anschauung und Erbauung, (zum Stichpunkt im IDEAMA vergessene ARD-Anstalten wie WDR, SWF, BR, SFB etc):
im Jahre 2008 brachte der kleine Berliner Verlag "Edition Robert Zank" in Zusammenarbeit vor allem mit dem WDR und dem SWR einen Schuber mit 3 Langspielschallplatten (LP) und insgesamt 6 radiophonen Werken des Hör-Künstlers Ferdinand Kriwet heraus.

Ferdinand Kriwet (*1942) begann seine Radioarbeit 1961 mit dem Sprechtext Offen. Es folgten Sehtexte, die das traditionelle Medium Buch verließen und in Ausstellungen und auf Plakatwänden veröffentlicht wurden. Parallel dazu entwickelte Kriwet theoretische Manifestationen zur akustischen Literatur, die die Grundlage für seine Radioarbeiten wurden. Bild und Ton hat er in "Textfilmen" für Mixed-Media-Shows in Kunsthallen, Kirchen und Kinos komponiert. Seine zumeist auf Medienzitaten aufbauenden "Hörtexte" sind nach musikalisch-rhythmischen Strukturen komponiert. Über zehn seiner Hörcollagen entstanden in Zusammenarbeit mit dem Studio Akustische Kunst des WDR (gegründet und sehr lange geleitet von Klaus Schöning, dem übrigens Kriwet diese Edition gewidmet hat).

Ich hätte mir gewünscht, dass in das IDEAMA alle 18 frühen Werke von Kriwet aufgenommen worden wären (anstelle von nur zweien!); wie sieht es denn aus, wenn jeder, der die Platten besitzt (die Edition bezeichnet sie als "edel gestaltete 3-LP-Picture-Disc-Luxus-Box"; die Schallplatte selbst heißt hier schönerweise "Rundscheibe"), bereits ein Vielfaches in den Händen hält von dem, was das IDEAMA als professionelles Archiv anbietet!

Und es sei noch eine ganz andere Frage gestattet: warum nur wurden so wenige radiophone Werke aus dem "anderen" Studio des WDR berücksichtigt, nämlich dem Studio akustische Kunst?

Dass ich diese Box zeige, hat noch einen anderen Grund: ihre grafische Gestaltung durch "Ott & Stein" ist einfach sehenswert!! Man kann sagen, dass diese Musik-Edition durch die grafische Gestaltung auf den großen Flächen der Langspielplatte samt Cover nicht nur schön anzuschauen ist, sondern auch Sinn&Inhalt der Werke überzeugend übermittelt; Ott & Stein haben übrigens anfangs auch die Plakate der Inventionen gestaltet, und ich bin wirklich froh und auch ein bisschen stolz über diesen zusätzlichen künstlerischen Wert, den wir dem Musikgeschehen verleihen konnten!


Noch ein Wort zu Jurybesetzungen (die mit Archivierung normalerweise nichts zu tun haben sollte!):
ich denke wir sind jetzt soweit, dass wir verstehen: das eigentliche Problem liegt nicht nur an der Idee, für die Einrichtung eines Archivs eine Jury einzusetzen, sondern vor allem im Konstrukt der Juryauswahl!
Es (das Problem) liegt damit weniger bei den Jurymitgliedern selbst, sondern darin, wer sie aussucht! Die Jurymitglieder freuen sich, wenn man sie einläd und normalerweise gut beköstigt, kaum jemand wird das abschlagen.
Aber was ist mit den meist ungenannten Mächten im Hintergrund, die die Jurybesetzung schalten??

Diese oft unbekannten Mächte wollen zunächst, dass die ganze Aktion erfolgreich wird (ja, was heißt denn "erfolgreich"?), erfolgreich für sie selbst bzw. für ihre Institution, für ihr Haus! - bezüglich IDEAMA etwa erfolgreich für das ZKM, CCRMA-Stanford etc.
Und genau da fangen Aspekte der Politik, Lobby, Zufall, Freundschaft, Abhängigkeit, Kunkelei, Seilschaften etc. an zu wirken und sich zu verzahnen!

Der einfachste und daher wahrscheinlichste Weg ist dann, das Wort Reputation sehr sehr ernst zu nehmen!

Aber verliert man damit nicht das Ziel aus den Augen???


Ich habe noch ein weiteres, damit vernetztes Beispiel zu nennen.
Es betrifft die gleiche Problematik, aber es geht um die Ausrichtung von Wettbewerben
(nochmals zur Mahnung: IDEAMA ist nicht nur eine Auslese "der besten Stücke", sondern durch die vertrackte Jury wird der Anschein erweckt, dass es sich um einen Wettbewerb handelt, in dem die "besten" Stücke mit der Anwesenheit im Archiv ausgezeichnet werden!):

Berühmt ist der internationale Wettbewerb für EM Bourges, der seit 1973 jährlich vom IMEB (vormals GMEB) ausgerichtet wird; er ist "wichtig". Man hat hier immer schon von der "holy family" gesprochen, die das Studio nahe der berühmten Kathedrale von Bourges genau in der Mitte Frankreichs einem internationalen Klientel öffnete! Die holy family betrieb neben dem Wettbewerb auch ein internationales Festival, gründete unter diesem Schirm 1982 die CIME , die sich sozusagen als IGNM der EM definierte und die Führung in der internationalen Welt der EM einnehmen zu können glaubte und es sogar schaffte, in den int. Musikrat der UNESCO aufgenommen zu werden (und damit auch Einfluss auf das Rostrum für EM hat!). Weil die Strukturen von Wettbewerb und Festival zusammen mit der selbstherrlichen Verwaltung der CIME so undurchsichtig, so offensichtlich im eigenen IMEB-Interesse standen und vor allem stinkend undemokratisch waren, sind fast alle nationalen Gesellschaften, auch die deutsche (degem), in den 90er Jahren ausgetreten, eigentlich kann man sagen: alle aktiven nationalen Vertreter traten aus.
Aber die CIME blieb hartnäckig bestehen und rekrutiert sich seitdem überwiegend aus Überbleibseln sozialistischer Gemeinden.

Auch die in der DDR gegründete "Deutsche Sektion der Int. Ges. für EM" wurde 1988 Mitglied in der Bourges-CIME. Am Schluss unserer Sendung "Subversion im Äther - die EM in der DDR" wird kurz auf diesen Tatbestand eingegangen und wir haben gesagt,:
"deren späterer Austritt aus dem Dachverband tat der ostdeutschen Seele verständlicherweise weh, hatte man doch einen großen DDR-eigenen Erfolg via Federstrich entwertet: den Erfolg, mit der Gründung der Deutschen Sektion der CIME die BRD einfach überholt zu haben".

Mehr wird in der Sendung nicht gesagt. Aber hinter diesem Satz lauern erhebliche Konflikte!
Man hätte noch aus dem Buch "Landschaft für Katzer" zitieren können, wo ein Mitglied dieser "holy family" (Barrière) sagt:
"Nach dem Fall der Mauer schuf er {Katzer} "Mein 89", Bestandteil der Suite "Die Eiche der Vereinigten Staaten von Europa", die Werke von Komponisten aus Polen, der DDR, Bulgarien, der Tschecheslowakei, Rumänien und Ungarn umfaßte. Ein Jahr darauf wurde der deutsche Verband vom Westen übernommen und kam in die Hände von Folkmar Hein.…"
Nun, "vom Westen übernommen": da fand eine demokratische Wahl statt (ich wurde damals zum Präsidenten gewählt) und es gab eine allgemeine Abstimmung, aus der CIME auszutreten!! Na, ja ... Um an das Thema "Werte" anzuschließen: was war und ist denn nun der "Wert" der CIME??

Schmankerl 1: etliche Gründungs- und Ehrenmitglieder der CIME tauchen auch in der IDEAMA-Jury auf (immerhin 10 gleiche Personen!)
Schmankerl 2: zur Geschichtsschreibung der weltweiten EM, zu der die CIME laut Satzung beitragen muss, heißt es lapidar: "ICEM has already received the texts of Argentina, Chile, Poland, Portugal and Romania"! Da sage ich nur: Vielen Dank für eine solch umfassende Geschichtsdarstellung!

Allerdings: jetzt steht die CIME vor dem Aus, ebenfalls das IMEB; und schon wieder kommen solch merkwürdige Gefühle auf, die mich zwischen der verhassten "Reputation" (Clozier und Barrière) und der Begeisterung für die EM hin und her reißen!! Tragisch ist's! Und: welche Reputation irgendeiner Lobby wird sich denn nun durchsetzen?? Oder ist es diesmal schlicht die Finanznot, die diesem Spiel ein Ende setzt?


Wir sind hier immer wieder auf die Nachhaltigkeit von Begriffen wie Reputation, Ranking, Wettbewerb, Jury, Bewertung getroffen.
Von ihnen geht eine unheimliche Verführung aus und sie sind im Begriff unser Wertesystem zu verkehren, wenn wir nicht aufpassen!!

Kommen wir kurz zum Hochschulranking, das ich ja indirekt angesprochen habe; in einem Tagesspiegelartikel vom 22.4.09 wird unter der hier passenden Überschrift "Bewerten und gleichmachen" berichtet:


In diesem Meinungsspiegel zum Thema erkennen wir einiges von weiter oben wieder:

Die Rankingmethoden für die Einstufung von Wissenschaft & Forschung, geschweige denn von Kunst, sind umstritten. Ich persönlich bezweifle, ob Ranking in der Kunst überhaupt etwas bringt!

Ergänzung: in einem weiteren Interview mit Frau Schwan (Tagesspiegel vom 17. Mai 2009, Seite 7) fällt folgender Satz im Zusammenhang mit der aktuellen Weltwirtschaftskrise:
"Diese Krise kann man nicht durch das moralische Versagen Einzelner erklären. Ich möchte aufzeigen, wie sich durch die Dominaz des entfesselten Konkurrenzdenkens eine strukturelle Verantwortungslosigkeit ausgebreitet hat - etwa auch in der Wissenschaft".

Dem stimme ich voll zu: IDEAMA und CIME sind deutlich geprägt durch Verantwortungslosigkeit, wobei ich Schwierigkeiten habe, wissenschaftliche Qualitäten zu erkennen!! - Denn wer diese Spielchen von Weglassen bzw. sozialistischem 68-Denken mitmacht, schließt verantwortungslos Künstler und ihre Musik-Kunst aus!

Im Tagesspiegel-Artikel vom 22.4.09 noch angesprochen ist der interdisziplinäre Charakter, der typisch für jeden Kunstverstand ist: wie soll in einer Musikhochschule denn ein solcher Kriterienkatalog aussehen, wenn Instrumentalisten und Sänger mit Komponisten und Tonmeistern darüber diskutieren; und wie siehts aus, wenn noch die Bildende Kunst und das Theater dazukommen??

Allein schon das Vertrauen in die Aufstellung eines solchen Kriterienkatalogs für die Evaluierung von Kunst scheint mir
anmaßend, gefährlich, geschmacklos, religiös
zu sein, was ich stark verkürzt und pointiert so kommentieren möchte:

Die Kriteriensuche für Evaluierungen und eine darauf eingeschworene Lehre hat zu einem massiven Verschulungsprozess in den Universitäten geführt - zu beobachten an den neuen Masterstudiengängen, wo ja Evaluierungen geradezu wie ein Elixier im Sinne eines Zaubertranks gehandelt werden und wo mit ihnen im Glauben an die "wahre" Aussage sogar gepunktet wird. Ein verschulter Wettbewerbsgedanke verschmilzt mit großer Wahrscheinlichkeit in einem bereits mit der Schule eingeimpften Punktedenken (sozusagen: es geht gar nicht mehr um Wissen und Können, sondern man strebt nur noch nach Punkten).
Auch die damit verbundene typische "Drängelei", das Studium möglichst schnell und im Gleichtakt zu vollenden, ist nach meiner Ansicht töricht und entspricht keineswegs meiner Erfahrung, denn jeder Mensch und vor allem jeder Lernende ist ein Individuum mit ganz eigenen Maßgaben des Fortschreitens in der Zeit.
Und die Freiheit in Forschung und Lehre beginnt genau bei diesem Procedere, ihre Ideale aufzugeben, sich selbst aufzugeben!


Kürzlich wurde ich bei meinem Vortrag an der HfM in Köln über den Zusammenhang zwischen Gerätefuhrpark und Ästhetik befragt. Ich habe versucht, folgende Kriterien zu verdeutlichen, die mit dem gerade Gesagten zusammenhängen:


Das Portal der Wiener Sezession schmücken die Worte:

Der Zeit ihre Kunst,
Der Kunst ihre Freiheit

Unabhängig davon, dass das Gebäude der Wiener Szession von einem meiner Sammlungsfavoriten stammt (Joseph Maria Olbrich), birgt dieser Satz vieles, das in diesem ganzen Vortrag pointiert wird, nämlich die Worte "Kunst", "Freiheit", "Zeit" und deren Verbindung:

Und wenn wir dies erkennen, können wir die Evaluierungsideen einfach mal sein lassen, denn über die werden die kommenden Generationen sowieso nur noch schmunzeln!


Ich komme jetzt zu einem letzten Punkt, das Ranking und Effektivität gleichermaßen in Frage stellt: ich meine das gefährliche Vertrauen in Reputation, was auch das alleinige Vertrauen in den vermeintlich eindeutigen Wert von Zeugnissen, Abschlussdiploma und weiteren Steigerungsformen des akademischen Lebens darstellt!

1.
Unsere Gesellschaft meint, dass Zeugnisse (Schule, Hochschule) irgendwie sein müssen und berechtigt sind. Das meine ich auch.
Nur darf man Zeugnissen nicht blind vertrauen! Das weiß auch jeder, denn es ist inzwischen üblich, dass Unis und Firmen Zeugnisse anderer Unis und Firmen nicht mehr automatisch anerkennen und eigene Überprüfungen vornehmen!! Und dies gilt insbesondere für künstlerische Berufe bzw. Tätigkeiten (Spielproben).
Meine Erfahrung ist nämlich die, dass die Beurteilung eines Menschen nur durch (schlechte oder gute) Zeugnisse mit einer tiefgreifenden Vergeudung von künstlerischen Potentialen einhergeht. Ich habe sehr interessante Künstler kennengelernt, die mit dem Makel eines schlechten Schulabschlusszeugnisses zurecht kommen mussten, aber gezeigt haben, dass ein solches Zeugnis unter ihren vielen anderen Qualitäten eher unbedeutend ist und dass sie mit den schlechten Zeugnissen nicht nur anständige Menschen geworden sind, sondern auch interessante Künstler. Ich sehe zwischen einem "guten" Zeugnis und dem Werdegang eines Künstlers kaum bewegende Zusammenhänge; man kann weder sagen, dass Menschen mit guten Zeugnissen automatisch ihr Leben und ihre Kunst meistern, noch umgekehrt!
Ich selbst habe bei meinem Tun an der TU Berlin auf Zeugnisse so gut wie niemals geachtet und Menschen in unserem Studio bewusst und gern zum Zuge kommen lassen, obwohl sie keine offiziellen Zeugnisse hätten vorweisen können!
Dies sagt, dass das Leben etwas komplizierter ist als dass man es einfach nach den Maßen von Zeugnissen ausrichten könnte. Wenn man es dennoch tut, vergeudet man Qualitäten, die in Zeugnissen nicht erfasst werden können (etwa künstlerische, aber auch menschliche Qualitäten).

Übrigens: dieses Bedenken äußerte auch Max Ernst in einem Dokumentationsfilm von Schamoni, den ich letztes Jahr im Westfälischen Landesmuseum in Münster sah (Ausstellungtitel "Maximiliana oder die illegale Ausübung der Kunst"). Max Ernst spricht in der Dokumentation "Maximiliana" über den Astronomen E. A. Tempel: "Er hatte Genie, aber kein Diplom!"- Tempel war durch Deutschland und halb Europa gewandert, um irgendwo eine Arbeit als Astronom zu finden - aber niemand wollte ihn haben, weil er eben kein Diplom hatte! Er entdeckte einen Planeten und gab ihm den Namen "Maximiliana"; aber jemand anderes fand ihn später auch und taufte ihn um! Er fand einen Nebel im Sternbild der Plejaden, aber man lachte ihn aus, etc.. Max Ernst schämte sich dafür, dass in Deutschland einst eine solch grobe Ignoranz herrschte!!

Als weiteres Beispiel sei darauf hingewiesen, dass Mitte der 90er Jahre an unserem Institut eine Professur ausgeschrieben war; es hatte sich damals auch Curtis Roads beworben (Gründer und Herausgeber des Computer Music Journals und des ca. 4 kg schweren Computer Music Tutorials); man nahm ihn nicht, weil er nicht habilitiert war (wen wunderts - das gibt es in den USA nicht) und zu dieser Zeit noch nicht promoviert war - inzwischen ist er Direktor des CREATE in Santa Babara (UCSB)!

2.
Es gibt in diesem Zusammenhang noch einen anderen Fall potentieller Vergeudung:
wenn die Abschlussprüfung durch die Studenten vollzogen ist, werden oft die Delinquenten sozusagen "abgeschoben". Das heißt in der Praxis: die Generationen von Studenten, die Sounddesign oder elektronische Komposition erfolgreich abgeschlossen haben, und in die man jahrelang investiert hat und die noch relativ geringe Erfahrungen vorweisen aber enormes Wissen und sprudelnde Begeisterungsfähigkeit mitbringen, werden aus dem Heimat-Studio rausgeschmissen (verständlich insofern, als die nächste Generation zum Zuge kommen soll), sie können und dürfen dort nicht mehr arbeiten!
Unabhängig davon, dass sich längst jeder die technischen Voraussetzungen zur elektronischen Produktion in seinem Homestudio selbst einrichten kann (was gelegentlich das Argument hervorbringt, man benötige die Uni-Studios nicht mehr), geht mit dem Verzicht auf solche ehemaligen Studenten der größte Wert von Kunstvermittlung verloren, nämlich der Reichtum von divergenten Diskussionen, also Auseinandersetzungen, die Synergien aus unterschiedlichen Standpunkten freisetzen.
Ich selbst habe in unserem Studio immer dafür gesorgt, dass die "alten" möglichst dabeibleiben und Gäste stets willkommen sind, solange dies möglich ist und so lange sie es wollen.
Ich bin mir nämlich sicher, dass die Anwesenheit von "anderem / fremdem / erfahrenem Gedankengut" das ausschließlich lokale (bös gesagt "provinzielle") Gut der Mitarbeiter synergetisch ergänzt und dass dies künstlerisch unbedingt erforderlich ist! Ich bin aus diesem Grunde sehr glücklich darüber, dass seit dem SS 2000 im TU-Studio die vom DAAD gestiftete "Edgard-Varèse-Gastprofessur für Computermusik" durch ihre in jedem Semester neu ausgesuchten Stipendiaten genau eine solche Funktion übernehmen! Auf diese Weise kommen "automatisch" wertvolle Aspekte zu Musik und Technik heran, zur Ästhetik, zu neuen Technologien in Verbindung mit Komposition und Klangkunst, andere Erfahrungsschätze, andere Meinungen, andere Lehren, Neues!


2. Hör -Werte / Raumarchive

Stereo & Surround & Industriestandards vs. EM

Wenn man die Surroundstandards betrachtet (5.1, 6.1, 7.1), so ergeben sich zwei Probleme:

Natürlich weiß jeder, dass Surroundstandards für das Kino und eine frontale Bildprojektion gedacht sind, die sich auch akustisch frontal orientieren und die Surroundkanäle eher zweitrangig einstufen; eine in der EM übliche und nach allen Seiten gleichberechtigte Orientierung ist überhaupt nicht gemeint und vorgesehen.

Nun stellt sich die Frage: warum nutzt die EM diese eher unglücklichen Industriestandards trotzdem (es sind inzwischen zahlreiche EM-Werke auf DVD und SACD erschienen, z.B. auch die TU-Jubiläums-DVD)?
Sind diese Standards womöglich gar nicht so wichtig? Sind andere Aspekte im Vergleich dazu viel wichtiger (etwa das
Ambiente, die Aufführungsbedingungen, ...)?

Zunächst müssen wir festhalten: die Kunstproduktion nimmt die technischen Möglichkeiten nicht aus der Sicht der Techniker / Wissenschaftler / Theoretiker wahr, sondern ganz praktisch aus der eigenen Perspektive, die erfahrungsgemäß ganz andere Schwerpunkte legt und sehr überraschend "technikfern" sein kann! Dies in mehrfacher Hinsicht:

Alternativen haben einige EM-Komponisten noch folgendermaßen gefunden:

Komplexe Raumklangwerke mit im Saal rundum verteilten Musikern wie Nonos Prometheo sind, so absurd es ist, auf Audio-CD in Stereo erschienen (inzwischen kamen Surroundversionen heraus, die eben ein bisschen schöner als stereo sind, aber natürlich auch nicht dem beabsichtigten Geschehen des Werkes und den Vorstellungen des Komponisten wirklich nachkommen)!! Solche Veröffentlichungen stellen im besten Fall nur eine Dokumentation dar, aber die verbrauchende Welt übernimmt diese Dokumantation als die volle Wahrheit! In mehr oder weniger einschneidender Weise gilt dies für alle Werke, die von originaler Mehrkanaligkeit auf Stereo reduziert werden!
Die Aufgabe eines professionellen Archivs ist natürlich die, originale Werkversionen in ihrer Mehrkanaligkeit zu erfassen und weiterhin spielbar zu halten (über Tonträger, Abspielmaschinen, Lautsprecher, Computer, Software, Partituren etc.) - und eigentlich gehören ja die aktuellen Aufführungsräume mit hinzu und in der Tat kann man sich darüber Gedanken machen, wie man die Raumakustik konservieren kann (Impulsantworten- Datenbank, die es bereits gibt, nur müsste man sie erweitern hinsichtlich der EM-Spielstätten); es ist eine schwierige und arbeitsintensive Aufgabe, die musealen Stadien einzufrieren (also etwa in genügend kleinen Abständen das ganze Akusmonium der INA-GRM Paris oder den Klangdom des ZKM bewahren!!).

Der Sinn von Mehrkanaligkeit; Raumbezüge, Raumempfinden

Ich möchte auf den Umstand verweisen, dass die Stereomaterialien eine mehrkanalige Produktion erheblich in eine insgesamt Links-Rechts-Orientierung einschränken. Lassen Sie uns folgende Funktionsprinzipien für Lautsprecher finden und auf Mehrkanaltauglichkeit überprüfen:

  1. der Lautsprecher ist Teil eines Instrumentationskonzeptes und wird als Musikinstrument aufgefasst; er bezieht eine feste Position im Raum - wie ein Musiker; er bewegt sich nicht und verlässt seinen Platz nicht; es können auch mehrere "Lautsprechermusiker" auftreten
    (Beispiel: Mark Applebaum Pre-Composition (2003)13'27 [8-Kanal])

  2. der Lautsprecher beschreibt eine diskrete Klangquelle (mono) und stellt einen akustischen Ort dar (Lautsprecherfunktion in sehr vielen Klanginstallationen)

  3. der Lautsprecher beschreibt einen diskreten Klangcharakter und fungiert als Paar-Teil in einem Links-Rechts-System bzw. bewirkt zusammen mit anderen LS-Paaren eine Tiefenstaffelung zwischen nah und fern (akusmatische Musik)

  4. ein Lautsprecher bewirkt zusammen mit möglichst gleichen anderen LS eine physikalisch berechnete räumliche Wahrnehmung in der Horizontalen bzw. Vertikalen (Klangdom, mehrkanalige EM-Darstellung) bezogen auf einen "sweet spot". - Dies ist die Standardsituation der mehrkanaligen Darbietung von EM

  5. Mischung von 3. und 4. ist der typische Fall beispielsweise unseres Inventionen-Festivals


  6. ein Lautsprecher ist Teil eines Linien- oder Flächen-Arrays (WFS - Wellenfeldsynthese) und hat in der Regel keine diskrete Funktion mehr, sondern wirkt als ein Teil einer Gesamtheit von hunderten, meist kleinen Lautsprechern.

    Flächenarray der Klanginstallation "Soundbits" von Robin Minard, Inventionen 2002, Stadtbad Oderberger Str.

Nun entsteht die Frage, ob diese unterschiedlichen Funktionen zu einem neuen bzw. anderen Hörerlebnis nachhaltig beitragen können, das uns in die Zukunft blickend hoffen lässt, auch die kommenden Generationen zu interessieren.


Raum und Bewegung

Bereits oben werden Argumente geliefert, dass die Raumwahrnehmung aus der Perspektive des Hörenden und nicht aus der Perspektive des Entwicklers stattfindet (sozusagen "was wir zu hören haben"). Der Raum selbst erscheint uns als jener, in dem kleine bzw. deutliche Veränderungen in der Zeit stattfinden (das sind "Bewegungen"):

kleine Veränderungen im Sinne von

deutliche / rege Veränderungen im Sinne von

bewegten Klangobjekten, die naturgemäß vom Ohr und allen anderen Sinnen äußerst aufmerksam erfasst und verfolgt werden (jede akustische Bewegung signalisiert uns eine potentielle Gefahr, je näher desto bedrohlicher empfunden!). Die Bewegung von Klangobjekten ist naturgemäß ein sehr seltener Vorgang in der traditionellen und auch zeitgenössischen Instrumentalmusik (wie sollten sich Musikinstrumente auch bewegen??), ist aber ein beliebtes Ausdrucksmittel bzw. ein beliebter Effekt in der EM und beim Film - man kann sogar sagen, dass dies ein Hauptgrund ist, sich der EM zuzuwenden. Hier wird gelegentlich übermäßiger Gebrauch von durch den Raum rasenden Objekten gemacht - ähnlich den filmischen Übertreibungen, wo kleine Tiere auf der IMAX-Leinwand gigantische und vor allem bedrohliche Ausmaße annehmen.

Man stellt an dieser Stelle fest, dass eine Mehrkanaligkeit für die Darstellung der "kleinen" Bewegungen kaum erforderlich ist und im obigen Sinne nur eine gewisse "Schönung" darstellt. Dagegen sind Aufführungen mit sinnstiftenden Bewegungen genau die, die eine Mehrkanaligkeit brauchen! Das trifft in besonderem Maße für den Film bzw. das Theater und Hörspiel zu! Aber eben auch für das, was oben als "Kino für die Ohren" / "cinema for the ear" bezeichnet wurde, also die EM in seinen speziellen Facetten des Hörspiels, der Filmmusik und der akusmatischen Musik mit dem Anspruch einer räumlichen Inszenierung. Übrigens hatten räumliche Inszenierungen immer schon große Beliebtheit, man denke an die mehrchörigen Aufstellungen in San Marco in Venedig, oder auch an die szenisch erweiterten Aufführungen am Hofe Ludwig des 14. oder an die szenischen Träume von Berlioz, auch Mahler, ganz zu schweigen von den spektakulären Klang-Inszenierungen in Oper und Theater.

Folgende Aspekte spielen eine prägende Rolle bei "regen" Bewegungen:
Tiefenstaffelung / Entfernung, der sogenannte Dopplershift: Turenas vorspielen


Die Objekte ändern ihre Position, sodass auf jeden Fall die akustische und optische Lokalisierung eine Rolle spielt;
für die gute Lokalisierung gilt die Devise: je mehr Lautsprecher desto besser, und zwar für alle drei Dimensionen.

Eine Spezialanwendung stellen Klanginstallationen dar, wo sich die Besucher selbst durch die Lautsprecheraufstellung bewegen können und somit selbst die Lokalisierung beeinflussen: wir sehen unten ein Foto (Roman März) der Arbeit "undefined landscape 2" von Hans Peter Kuhn in der Villa Elisabeth (Inventionen 2008).


Tiefenstaffelung

die Objekte bewegen sich in verschiedenen Entfernungsbereichen, die jeweils eine bestimmte kommunikative Eigenschaft aufweisen;
durch die Raum-Perspektive finden Bewegungen von nahen Quellen in der Regel schnell und die von fernen sehr langsam statt (das ist ja eines der Entfernungsmerkmale, zu der man auch "akustische Perspektive" sagen kann).
Die Entfernungs-Bereiche sind:

Noch eine Bemerkung zum akustischen Horizont in Bezug auf die EM:
die Klänge unseres Alltags-Horizontes treten tausendfach und aus allen Richtungen mit sehr ähnlichem Charakter auf. Es ist ein Klangerlebnis, das wir etwa beim Betreten eines großen Stadions mit tausenden von Zuschauern (ohne Lokalisierung der Einzelstimmen) wahrnehmen; wir kennen dies auch von einem Waldspaziergang, wo der Wind durch die Zweige und Blätter fegt (wir hören nicht das einzelne Blatt, sondern tausende); wir lieben es, ihm (dem Klang des Horizonts) am Strand zu lauschen, vor einem Wasserfall, einem Feuer: er wirkt sehr räumlich, wir empfinden meistens eine große Klangschönheit, der wir auch lange beruhigt lauschen können. Typisch für diese Klänge ist, dass wir keine einzelnen Klangquellen (Blätter, Wassertropfen, Feuergas) wahrnehmen, sondern die Gesamtheit vieler vieler selbstähnlicher Mikroquellen, die einen sich ständig ändernden und einen niemals gleichen Raumklang bilden. Diesen überwältigenden Höreindruck erlebten übrigens auch die Besucher der Klanginstallation "SoundBits" von Robin Minard, (siehe Foto oben).
Die EM macht regen Gebrauch von diesem Effekt, weil er dem Hörer ein vertrautes "schönes" Akustikerlebnis suggeriert. Das zur Zeit etwas modische Werkzeug dazu heißt "Granularsynthese". Und die Beschreibung des seine diskrete Eigenschaft aufgebenden Lautsprechers passt übrigens genau zu einem WFS-Lautsprecher; man kann sagen, dass hunderte von Einzellautsprechern in einem WFS-Array den akustischen Horizont darstellen!

Interessant ist, dass man mit dem Lautsprecher nicht nur den akustischen Horizont, sondern alle genannten Entfernungsbereiche bis zu einem gewissen Grad simulieren und gestalten kann und dass natürlich die EM intensiv damit agiert.
(Beispiel siehe Kommentar/Texte Inventionen 2008). Dort werden die vorhandenen Konfigurationen erläutert;
"Übersicht über die gesamte Lautsprecherlandschaft im Wellenfeld-Saal" der TU Berlin, Hörsaal H0104: wir erkennen mehrere Lautsprecher-"Kreise" und die paarweise aufgestellten Lautsprecher des Akusmoniums.
Beachten Sie bitte: die zwei Kreise des TU-Klangdomes bestehen nicht aus acht, sondern aus neun gleichen Lautsprechern (dies ermöglicht die Abbildung von Surroundproduktionen mit Centerkanal!):


das Foto von Th. Schneider zeigt den WFS-Saal bei der Probe (Hans Tutschku); wir sehen an den Wänden das WFS-Band (insgesamt 104 Module mit je 8 diskreten Lautsprecherkanälen, also 832 Kanäle), große Teile des neuen GRM-Akusmoniums (deutlich die vier "Trees" in den Sitzreihen und die roten Kugeln), andeutungsweise Teile der verschiedenen Lautsprecherkreise und die Meyer-MM4 (auf hohen Mikrofon-Stativen montiert).

Die oben beschriebenen Entfernungsbereiche können hier parallel & gemischt & gleichzeitig durch 3 Lautsprecherkonzepte simuliert werden:

Der Nachhall des Aufführungsraumes selbst schränkt die Möglichkeiten der Bereichsdarstellung ein; der hier abgebildete WFS-Saal (immerhin mit 700 Sitzplätzen) hat eine erstaunlich kleine Nachhallzeit von ca. 0,9 sec, sodass er für simulierte Raumabbildungen sehr gut geeignet ist.

Ein weiteres Beispiel eines Akusmoniums zeigt folgendes Bild vom Festival Inventionen 1998 (50 Jahre Musique concrète):


die Nachhallzeit der Parochialkirche Berlin-Mitte ist über 2,8 sec; wir sehen Teile des alten GRM-Akusmoniums, wieder die "Trees", das alte GRM-Mischpult.
Der lange Nachhall verhindert eine Simulation kleiner Räume und macht den Gesamtklangeindruck undeutlich!

Ich zeige dieses Bild von der Parochialkirche in Rückbesinnung auf eine bereits oben angedeutete "Wichtigkeit" des Ambientes: das Innere der Kirche sieht nicht gerade wie ein schmucker Konzertsaal aus, der Putz ist bereits von den Wänden gefallen, die elektrischen Stromleitungen und die Beleuchtung sind nicht gerade komfortabel, es zieht durch undichte Fenster, Straßenlärm und die nahe S-Bahn stören
--
und doch: wir fühlten uns hier wohler als in der Philharmonie, weil die Gesamtsituation Lautsprecher – Publikum sinnvoller und in eigener Regie frei und unabhängig aufzubauen war (siehe auch Blockschaltbild oben): die Zuhörer sitzen mittig und werden vom Klanggeschehen umkreist; es gibt keine Bühne, kein Parkett, keine "umgekehrte Architektur" (darunter verstehe ich den Normalfall eines Konzertsaales: das Publikum sitzt entweder in festen Reihen vor einer Bühne oder die Bühne befindet sich mittig im Publikum; das Klanggeschehen findet immer vor dem Publikum statt, nicht um das Publikum herum; für diese "andere" Aufführungsform hat Luigi Nono geworben - etwa mit der Inszenierung des Prometeo, aber nur im seltensten Fall wird Nono's Vorstellung entsprochen!).


Ein weiterer Parameter für das Verständnis von Bewegung ist jener, der in unserer akustischen Alltagswelt permanent wirkt und für den das Gehör eine sehr feine Erfahrung mitbringt: es ist der Dopplershift. Ohne dieses Phänomen wirkt eine Bewegung unnatürlich, auch wenn man noch so viele Lautsprecher einsetzt. Bemerkenswert ist: der Dopplershift dominiert ganz und gar die Bewegungsempfindung!

Chowning hat in seinem quadrofonen Werk Turenas geschickt den Nachhall für die Entfernungswahrnehmung eingesetzt, indem er gezielt ausgesuchte Klangobjekte ständig aus dem gleichmäßigen Nachhall des fiktiven Raumes heraus- und wieder hineinfahren lässt und somit erst das Gefühl für dessen Größe vermittelt und ein gutes Beispiel auch für die künstliche Darstellung der Tiefenstafflung gibt.

Was wir hier in der Dimension von im Augenblick ablaufender Zeit erleben, nämlich Bewegungen von Klang im Raum, können wir auch auf die Dimensionen langen Zeiterlebens übertragen, etwa wie Elliot Carter angedeutet hat: er beschreibt zeitabhängige Räume der Erinnerungen und damit Räume, in denen sich Werte wandeln durch fortwährende Bewegung.

3. Werteverschleierung durch Einbildung

Das Beispiel Turenas zeigt, wie gern sich das Ohr subjektiv auf Erfahrungen einlässt, die sich im Laufe des Lebens oder in einem Lernprozess eingestellt haben, auch in einer kurzen Zeit, wenn man beispielsweise etwas in ständiger Wiederholung hört. Die ständige Wiederholung eines akustischen Vorganges, der etwa zwischen 20 ms und 20 Sekunden dauert, ereignet sich oft bei der Produktion von EM (früher nutzte man die Tonbandschleifen, jetzt ist es etwa der Schalter "Loop"):

man prüft die Klänge immer wieder, und wiederholt Passagen, um sie zu korrigieren bzw. um sie verstehen zu können, bis ins letzte Detail. In unserem Kontext sei bedacht, dass gerade die Wiederholung von Klang und Klangpassagen einen Gewöhnungsprozess darstellt; übertriebenerweise gesagt: eine Struktur, die wir nicht ein oder zweimal anhören, sondern hundert Mal, bekommt eine ganz andere Wirkung (man denke an die EM von Xenakis, der sozusagen ein Dauerfeuer ähnlicher und sehr lauter Klangstrukturen auf das Trommelfell loslässt; nach spätestens 10 Minuten hat sich unser Ohr bzw. das Hören total gewandelt). Unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich darauf, bestimmte Merkmale / Muster in der Loop zu erkennen bzw. wieder zu erkennen; in diesem Lernprozess werden Strukturen entdeckt, die beim einmaligen Hören unbeachtet bleiben würden; allmählich werden auch bestimmte Erwartungen gestärkt, man glaubt immer deutlicher, feinste Nuancen wahrzunehmen, die sonst unhörbar sind. Es könnte eine Situation entstehen, dass ein mit einem bestimmten Werkzeug bewegter Klang, der eine Kreisbewegung beschreiben soll, nach wiederholtem Anhören und zuletzt williger Einstellung des Zuhörers unter der Zuversicht, es mit einem perfekten Allgorithmus zu tun zu haben, wirklich als Kreisbewegung wahrgenommen wird! Aber womöglich versteht man dies bei einmaligem Zuhören gar nicht mehr bzw. ein unbefangener Zuhörender bemerkt nichts, versteht nichts; und es könnte sein, dass später niemand mehr diese angebliche Kreisbewegung nachvollziehen wird! - Eines soll im Zusammenhang mit dem "Wert"-Begriff klar werden: Einbildung zusammen mit individueller und zeitabhängiger Erfahrung stellt die These von der Eindeutigkeit der Bewertung ziemlich in Frage.
--- ein bisschen nach dem Märchen "des Kaisers neue Kleider" - Wikipeda meint dazu:
das Märchen ist aufgrund des angesprochenen Konfliktes zeitlos; auch in der aktuellen Tagespolitik finden sich immer wieder Äußerungen, die unbequeme Wahrheiten aus Rücksicht auf die eigene Reputation und Stellung verschweigen. ----

Ich sage das im Rückblick auf die Entwicklung mono-stereo-quadro deshalb, weil wir ehrlich zugeben müssen, dass wir uns Vieles eingebildet haben; zumindest behaupte ich das für meine Person, die man in einem Foto von 1979 inmitten des alten TU-Studios sieht, umgeben von vier Lautsprecherungetümen. Es geht mir öfters so, dass ich mich beim Anhören älterer Werke, die ich selbst gemacht habe, dabei ertappe, dass meine Erwartung (als Ergebnis meiner Erinnerung und damit auch meiner Einbildung!) ganz anders ist als das, was ich jetzt höre. Inzwischen ist nämlich Zeit vergangen, ich und wir ändern uns und neutralisieren so manchen Irrtum! Und inzwischen haben sich die Studiowerkzeuge grundlegend verändert, im großen Ganzen sogar dramatisch verbessert (was die Simulation von Klangbewegungen angeht), und die noch in Erinnerung gebliebenen Probleme, die damaligen Kämpfe mit den alten Werkzeugen existieren nicht mehr und daher kommt mächtige Irritation auf; und auch hier sehen wir: diejenigen, die die Geschichte nicht selbst erlebt haben, müssen zu einer ganz anderen Bewertung kommen!
Ich spreche hier übrigens über die akustische Wahrnehmung, nicht unbedingt über die Musik selbst!

Fazit: Die Wahrheit der Wahrnehmung kann ein Resultat des Glaubens an die technische Perfektion sein (was sich ständig in der Zeit wandelt)

Wir erinnern uns an die Funkausstellung 1932, wo ein angesehener Physiker in überzeugendem Tonfall behauptete, dass "der Resonanzboden einer Violine ein schwieriges Gebilde sei und wir die Verstärkertechnik viel besser beherrschen und damit viel einfacher schöne und laute (beliebig laute) Geigenklänge erzeugen können".

Und wir erinnern uns an den oben herausgestellten tiefen Glauben an den technischen Fortschritt!!!

4. Persönliche Werte

Ich möchte abschließend noch einige eher private Bemerkungen darüber machen, die (über zugegebenermaßen eine gewisse Polemik des ersten Kapitels hinaus) meine persönlichen Wertschätzungen unterstreichen sollen.

Der Wert der Zeit:

Ich schätze es sehr, wenn ich verstehe und beobachte, dass für ein Projekt genügend Studio-Zeit zur Verfügung steht; meine Erfahrung sagt: eine gelungene Arbeit benötigt ausreichend Zeit. Damit meine ich auch: Drängelei und Hetze schaden meistens (nicht immer). Es ist schön, dass in unserem TU-Studio den Projekten ausreichende Studiozeit zugeteilt werden konnte; auch, dass unsere Studios "rund-um-die-Uhr" auch an Feiertagen und Wochenenden genutzt werden können (das ist nicht überall der Fall).

Im übertragenen Sinne möchte ich noch einen weiteren Zeitaspekt bringen: der Wert einer Sekunde hat sich grundlegend gewandelt!
die alten Technologien ließen ein relativ langsames Arbeitstempo zu und ehe eine Sekunde Musik fertig war, vergingen manchmal Ewigkeiten. Das Ergebnis gehorchte nicht der heute üblichen "Undo"-Korrektur, ein "Undo" war gar nicht möglich, sondern führte zu einem Neuanfang. Ich glaube, dass deshalb mit den Arbeitsschritten viel vorsichtiger umgegangen wurde! Ich sehe, dass eine Sekunde Tonband von 38,1 cm Länge nicht das gleiche ist wie die 48000 Samples eines Soundfiles!

Der Wert von Teams mit Kunstverstand, Werte durch Kommunikation:
was sind eigentlich die "Werte" im Rahmen meiner Tätigkeit im Rückblick?

Wie sich herumgesprochen haben dürfte, wurde ich am 1.3.09 in den Ruhestand versetzt. Zu diesem Anlass hatte ich die große Ehre, mehrere Konzerte und Rundfunksendungen für mich und über mich miterleben zu dürfen. Es kulminierte am 8.2.09 in einer "geheim gehaltenen" Mammutveranstaltung "Für Folkmar", in der mir ganze 77 kurze Stücke geschenkt und mit je einer Länge von 65s uraufgeführt wurden. Ich habe mich bei allen Beteiligten und besonders bei den Künstlern tief gerührt bedankt und schrieb einen allgemeinen Text dazu, den ich ausschnittsweise zitiere:

Ich vergesse nicht, dass sich nach einer sehr schwierigen Anfangsphase (1974 bis 1979) die Situation des Fachgebietes dahingehend stabilisiert hatte, dass wir ab 1979 eine längerfristige Planung in der Lage waren anzugehen. Bald (ab etwa 1982) kamen mehrere Faktoren synergetisch zusammen, die den eigentlichen Durchbruch des Studios herbeiführten:

  1. Es entstand ein Kooperationsnetzwerk vor allem mit dem BKP des DAAD (Wieland Schmied, Helga Retzer, Ingrid Beirer, René Block), der UdK (Frank Michael Beyer und den beiden Gastprofessoren Herbert Brün und Jozef Patkowski) und der Akademie der Künste (AdK; Nele Hertling)
  2. Es waren finanziell gesehen relativ "fette" Jahre, vor der Wende
  3. Es herrschte eine Athmosphäre mit Kunstverstand in der TU-Verwaltung, speziell in der Bauabteilung, ohne die das Studio sich nicht hätte entfalten können; auch der Bau des Leitner'schen Tonraums fällt darunter!
  4. Es entstand dank der professionellen Ausstattung mit Computern (Schenkung einer VAX 11/780 durch die Firma DEC im Jahre 1984) ein neues Profil in Forschung / Lehre / Produktion
  5. Die Personalsituation: besonders Manfred Krause, Klaus Buhlert, Bernhard Feiten, Bernd Schönhaar und Thomas Seelig sorgten für eine Professionalisierung (digitale Signalverarbeitung); Klaus Ebbeke begann durch sein Seminar "Geschichte der EM" seinen musikwissenschaftlichen Teil zum EM-Komplex beizutragen. Beide Strömungen verschmolzen mit den Programmen der Inventionen-Festivals ab 1982
  6. Es herrschte eine gewisse Aufbruchstimmung nach den Metamusikfestivals von Walter Bachauer und der legendären Ausstellung "Für Augen und Ohren" in der AdK 1980 (Nele Hertling, René Block), die im damaligen Westberlin "unser" Genre EM mit Computermusik und Klangkunst aufblühen ließ und an deren Wachsen das TU-Studio erheblichen Anteil hatte.
  7. Alle Punkte 1. - 6. schafften Voraussetzungen dafür, dass viele Künstler sich nach Westberlin hingezogen fühlten und vor allem Interesse hatten, im und mit dem TU-Studio zu arbeiten.
  8. Die Universität bzw. die Fakultät 1 / Fachbereich 1 ließen uns machen, auch Manfred Krause (Fachgebietsleiter 1979 - 1999) ließ mich zuversichtlich und vertrauensvoll machen ...

Alle 8 Punkte stellen (teilweise verdeckt) meine Wertefavoriten dar, über die ich noch viel ausführlicher berichten könnte, aber ich lass das mal, die Zeit rennt uns weg....

Vielleicht noch ein Nachsatz:
aus verschiedensten Gründen kristallisieren sich im Laufe der Zeit bestimmte Vorbilder heraus; man könnte aus dem zitierten Text eine Menge von Hinweisen heranziehen. Aber die ich jetzt noch benenne, sind oben nicht vertreten: es ist das EMS in Stockholm und die Strobelstiftung Freiburg. Mit beiden Studios hatte ich jahrelang und intensiv zu tun (in den letzten Jahren eher nicht). Beide verfügten über Werte, die unserem Uni-Studio zunächst vorenthalten waren:

Nun, durch Netzwerke, Kooperationen und eine synergetische Politik von Geben und Nehmen in der großen Stadt sind wir zwar nicht "reich" gewesen (einen Künstleretat gab es niemals in der TU!), aber irgendwie konnten wir die besagten Vorbildfunktionen mit fremder Hilfe doch erreichen!!! Nur zur Kaffee-Ecke ist es nie gekommen!!

Die ureigensten Werte eines Studios und die Vergabe von Aufträgen

Die wichtigsten Voraussetzungen zur Durchführung eines allgemeinen EM-Komplexes sind:

(man beachte: Technik wird hier NICHT genannt!);
wenn das alles einigermaßen stimmt, benötigen wir
Programmgestalter, Organisatoren, Presseleute und Öffentlichkeitsarbeit, nette Hausmeister und: die Musik, um die es geht: neue Werke, Erstaufführungen, Uraufführungen!

Der übergeordnete Wert von Festivals entsteht durch die Vergabe von Aufträgen! Es ist auch ein Ausdruck des Ernstes, mit dem ein Festival für zeitgenössische Musik betrieben wird; es ist nämlich sein Aushängeschild! Ich bin wahnsinnig froh, dass in unseren Festivals Inventionen u.a. stets Auftragswerke zur Premiere gelangten; ich bin wahnsinnig dankbar, dass die Partner (an erster Stelle das BKP des DAAD!!!) sowie die staatlichen Geldgeber und Stiftungen die Auftragshonorare gezahlt haben!!

Ich habe aber auch privat Konsequenzen gezogen und erteile seit meinem 50sten Geburtstag Kompositionsaufträge (bislang sind es sieben).

Vorspielen: Les lointains noirs et rouges von Gilles Gobeil

Ich möchte dafür werben, dass alle, die irgendwie eine innere Bereitschaft spüren, für Kunst Geld ausgeben zu müssen bzw. zu können, dieses Geld nicht nur für Bilder, Skulpturen, Grafiken (kurz: bildende Kunst) auzugeben, sondern auch für Musik bzw. Klangkunst!! Man kann selbst nämlich etwas tun, sei es durch Übernahme von Musikerhonoraren oder anderen Unkosten, sei es durch gezielte Vergabe von Kompositions-Aufträgen.

Man kann sich zwar das Stück nicht an die Wand hängen, man kann es auch nicht ruhigstellen, aber man darf sich freuen, es mit anderen zu teilen.

Folkmar Hein, 22.6.2010